»und schlag auf schlag!
werd ich zum augenblicke sagen:
verweile doch! du bist so schön!« (goethe)

»wenn jeder mensch glücklich ist, dann wird es auch keine zeit mehr geben, weil sie dann gar nicht mehr gebraucht werden wird. man wird sie nirgends verstecken. die zeit ist schließlich kein ding, sondern eine idee. sie wird im verstand verlöschen.« (dostojewskij)

»minute papillon« ist ein stück über zeit. sie ist unabdingbar und somit mit jeder existenz verbunden. im zeitalter einer erschöpften gesellschaft sind wir driftende, surfen durch die welle des lebens, in tempowahn und zeitnot. die französische redensart »minute papillon« als »halte einen moment inne« übersetzt, drückt den wunsch nach leichtigkeit, unsere suche nach glück und die kurzlebigkeit unseres zyklus als mensch aus.

die geschichten davor, dazwischen und danach, die sehnsucht, dass alles so bleibt oder sich alles verändert, verkörpern die tänzer – zugleich wie ein fluss und ufer, ein fundament und eine last. über ihnen wie chronos auf einem turm, schaufelt ein mann unablässig erde hinunter, unter ihnen flecken von wachsendem gras. in »minute papillon« entstehen schicht um schicht passagen zwischen dem ablauf und der endlosigkeit der zeit, perspektiven ihrer widersprüchlichen züge: magie und unbeugbarkeit, menschlichkeit und unwürdigkeit, irrealität und unentrinnbarkeit.

»… und chronos schaufelt … zutiefst menschlich zeigt toula limnaios in leisen, intensiven bildern die vergänglichkeit des lebens. ein bewegendes erlebnis.« (neues deutschland tanznetz, k. schmidt-feister, 2015)

premiere 27 nov 2015

tanz/kreation katja scholz, inhee yu

die cie. toula limnaios wird institutionell gefördert durch das land berlin, senatsverwaltung für kultur und europa.

konzept/choreographie

toula limnaios

musik

ralf r. ollertz

tanz/kreation

daniel afonso, leonardo d’aquino, alba de miguel, priscilla fiuza, alessio scandale, hironori sugata, karolina wyrwal

lichtdesign

jan langebartels

raum/kostüme

antonia limnaios, toula limnaios

choreographische assistenz

ute pliestermann, giacomo corvaia

public relation

silke wiethe

kritiken

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»wieder hat die berliner choreografin poetische, verrätselte bilder erfunden, um die menschliche existenz auszukundschaften. … memento mori – das scheinen viele der szenen dem zuschauer zuzuraunen. die tänzer trotzen tapfer (der erde). doch pflügen sie sich auch geradezu hingebungsvoll durch den torf. der komponist ralf r. ollertz schichtet die verschiedenen zeitebenen übereinander. … sie sind hier ganz dem diktat der messbaren zeit unterworfen. doch oft haben die tänzer etwas getriebenes. sie jagen dem glück nach – doch die kostbaren momente lassen sich nicht festhalten. und auch der partner bietet keinen halt. so erhalten die erfinderischen duette mit der zeit etwas abgründiges. … die figuren rennen ihren obsessionen hinterher – und stemmen sich mit verve gegen die vergeblichkeit. ihren existenzialismus übersetzt toula limnaios in ebenso ausdrucksstarke wie sinnliche tanzszenen. vor allem die duette sind sehr prägnant choreografiert und fangen die emotionalen facetten der figuren ein. und die bravourösen tänzer gehen nicht nur erfinderisch mit der erdanziehung um. sie verleihen der reflexion über sein und zeit auch eine große emotionale intensität.« (tagesspiegel, kultur – redaktion, s. luzina)

»toula limnaios hat miniatur-geschichten entworfen. es sind szenensplitter, zeitpartikel, die ihre sechs tänzer aufhäufen. momente, in denen paare sich finden und verlieren, in denen einzelne in zustände der ekstase, des glücks oder des leids versinken, momente, die kurz aufleuchten und wieder erlöschen. … ein gleichnis für unsere zeit der ruhelosigkeit, der maßlosigkeit und der hilflos fordernden hingabe an den immer flüchtigen erlebnis-augenblick, der sich zwar dehnen kann, aber fraglos immer vergehen muss. toula limnaios hat wieder allegorien, sinnbilder in der ihr ureigenen poetisch-rätselhaften, existenzialistisch grundierten tanzsprache ersonnen, diesmal angesiedelt in einem verwunschenen niemandsland. die bühne ist zugleich feld und acker, ist kunstraum und naturlandschaft. das ist ein bild von ewigkeit …
in dieser trockenen torflandschaft steht ein hohes baugerüst und einer der tänzer schleppt unausgesetzt in einem eimer den torf nach oben, um ihn mit der schippe wieder herunterzuwerfen, bis eine staubwolke durch die halle zieht, bis alle tänzer braun, verstaubt, verschmiert sind, gezeichnet von ihren aktionen, gezeichnet vom leben.
die musik von ralf r. ollertz ist eine zeitlich und räumlich geschichtete klanglandschaft, ein pulsieren von übereinander liegenden rhythmus-schichten, elektro-sounds, die zerfasern und zerfließen, die sich öffnen und erweitern, die aber auch bedrängend und beengend klingen können, die sich unvorhersehbar wandeln und als klangräume ebenso assoziationen frei setzen wie der tanz. etwa wenn klaviermusik von robert schumann und franz schubert erklingt, wie ein echo aus einer anderen zeit, wie romantische harmonien, die nun fremdklänge sind in einer dissonanten welt und daher nur geisterhaft verschwommen kurz auftauchen und dann überspült und weggespült werden.
toula limnaios zeigt einen tanz der offenbarung, der auflösung und des vergehens. da schmiegen sich mann und frau in hingebungsvoller innigkeit aneinander, verschmelzen zu einem körper und verlieren sich dann, ohne drama, ohne konflikt. ihre idyllische zweisamkeit vergeht einfach und wenn sie später wieder zueinander finden, ist es zwanghaftigkeit und kontrolle, die sie zusammenbindet. … ein anderes paar küsst sich viele minuten lang – das könnte der längste kuss der tanzgeschichte sein – … und von einem hauch verzweiflung umweht. …
›minute papillon‹ ist eine choreographie starker bilder und heftiger emotionen, bruchstückhaft, rätselhaft, verstörend und manchmal komisch und wieder einmal geht man, wie so oft bei toula limnaios, mit eindrücken und bildern im kopf in die nacht, die einen nicht loslassen.« (rbb kulturradio, 2015)

»poesie der erschöpfung. toula limnaios ist die poetin unter den zeitgenössischen choreografen berlins. sie liebt die schönheit der bewegung, die schönheit von kurzen szenischen momenten, die oft wie schillernd aufsteigende und dann zerplatzende blasen wirken. denn bei aller poesie, an der konkreten realität arbeitet sich die choreografin in ihren stücken immer ab. ein stück über die zeit, eine erschöpfte gesellschaft, in der die sehnsucht innezuhalten und dem täglichen stress zu entkommen als drückender traum ins unendliche wächst.« (berliner zeitung, feuilleton)

»was unser leben durchdringt, zeichnen die tänzer nach. toula limnaios hat da geschürft, wo sie künstlerisch zu hause ist: in existenzialistisch grundierten stoffen, aus denen sie einprägsame bilder formt.« (zitty/ tanzpresse, a. jaensch)

»… und chronos schaufelt … ralf r. ollertz tonspur, grundiert von dumpfen trommeln, zerfasert von an- und abschwellendem knistern, unterbrochen durch kontrastierende musikzitate, die klänge aus einer fernen welt in die körper der protagonisten tragen, umhüllt performer wie zuschauer.
in schwarzer monteurkluft schaufelt hironori sugata fünfundsiebzig minuten in wohl überlegten arbeitsabläufen torferde von einer grasfläche, füllt diese in einen eimer, den er viele male auf (s)einen hohen gerüstturm bugsiert. als chronos, ohne bart, sichel und stundenglas, wird er zur magisch-spiegelnden konstante in diesem kreislauf des lebens und überlebens von drei tänzerinnen und zwei tänzern. seine präsenz lenkt augen und ohren der zuschauenden auf die permanenten gegensätze im puzzle der glückssuchenden.
ein paar (katja scholz, leonardo d’aquino) müht sich ab den kleinen glückskreislauf zu erhalten, sorgend trägt sie den mann viele male, innig umschlungen tanzen sie ihren langsamen walzer, doch die beschränkung auf das ewig gleiche und die einseitige dominanz der frau zwischen kind und dompteuse lässt die behauptete zweisamkeit als brüchig und latent gefährdet erscheinen. das paar zerbröselt vor unseren augen. wir blicken auf träume und albträume beim wachsen oder verkümmern am anderen. … inhee yu peitscht den eigenen körper, hängt sich an einen mann, wird getragen und fallen gelassen, liegt in betörend schöner totenruhe im torf, tanzt im angesicht eines teddys das erschrecken vor dem eigenen gesichtsverlust, tanzt hingebungsvoll doch fragmentiert im stroboskop-lichtblitz zu bachs benedictus. fünf menschen trippeln wie holzfiguren um die turmuhr. zombies, torfverschmiert. karolina wyrwal in hohen silberpumps, festgenagelt im sand; chronos schaufelt. in das klopfen und knistern mischt sich klaviermusik von robert schumann. daniel afonso legt seinen kopf auf ihre schulter und im nicht enden wollenden ewigen kuss drehen, kreisen, fliegen beide dahin. beseelt wird sich der mann unter den turm in den flugsand stellen, lebensenergie tanken; chronos schaufelt. später scheint er liebevoll ihr verschmiertes gesicht zu säubern, doch es sind augen und mund der frau, die er verklebt, um sie zum objekt abzurichten.
vom turmplateau schaut chronos auf sanftheit, manipulation, aufrichtigkeit, zerstörung und selbstzerstörung. zerrissene menschen im fluss der zeit. gezeichnete. nur ihre schatten bleiben an der wand sichtbar. chronos steigt herab, nimmt die gesichtslose kreatur in seinen arm und singt.
die uraufführung ist teamarbeit im besten sinne. toula limnaios’ choreografische und inszenatorische fantasie mit ihren und für ihre protagonisten scheint unerschöpflich! ihre tänzerischen polyphonen perspektivwechsel zaubern in ›minute papillon‹ kongenial interpretierte, ineinander fließende bewegungsbilder von bezwingender theatraler kraft. momente des innehaltens, der ambivalenten kontemplation: leise, verstörend, beunruhigend. das intensive spiel der sechs protagonisten macht ›minute papillon‹ zu einem bewegenden berliner tanztheater-erlebnis.« (neues deutschland, tanznetz, dr. k. schmidt-feister, 2015)